Die Seestadt zeigt, wie ein neuer Stadtteil zum „Urban Lab“ einer Millionen-Metropole werden kann.
Und dient damit als Case Study für den Mut, konsequent neue Wege zu gehen – auch und besonders in der Energieversorgung.
Von
Ellen Berg
Auf die Frage, warum in der Seestadt so vieles möglich ist, das anderswo noch als nicht machbar,
zu teuer oder zu unsicher abgetan wird, gibt es viele Antworten. Fix ist, dass sich die Verantwortlichen von Anfang an der
Tatsache bewusst waren, welche Möglichkeiten ein wachsender Stadtteil bei der Erforschung und Umsetzung neuer Technologien
und Standards bietet, die bei einzelnen Bauprojekten in dieser Dimension nie möglich sein können. Und die willens waren, diese
Chancen auch konsequent unter dem Motto „Das Bessere ist der Feind des Guten“ zu nutzen, sich nicht zufriedenzugeben und immer
wieder neu zu schauen, was funktioniert, was Luft nach oben hat und wo wirkliche Meilensteine gelungen sind, die in einen
breiten Roll-out gehen sollten.
Die Weichen wurden schon in der ersten Planungsphase ab 2008 in der Seestadt richtig
gestellt – als eine Energiekrise in Europa für die meisten unvorstellbar und von ESG-Richtlinien noch lang nichts zu sehen
war – entschied man sich hier für einen mutigen Schritt: Im neuen Stadtteil wurde gänzlich auf Gasthermen verzichtet, die
damals guter Standard waren. „Auch wenn damals die Themen Energie und Klima noch ein Minderheitenprogramm waren, hat man in
der Seestadt schon viel Wert darauf gelegt, dass das System sukzessive ohne fossile Energieträger wie Gas oder Öl auskommt“,
erklärt Gerhard Schuster, Vorstandsvorsitzender der Wien 3420. Vielmehr setzte man auf Fernwärme, die in Wien schrittweise
dekarbonisiert wird, und förderte durch strenge Benchmarks und Wettbewerbe den Einsatz lokal produzierbarer Energie durch
Photovoltaik, Solarpaneele, Wärmepumpen oder umfassende Bauteilaktivierung.
Der wichtigste Hebel dabei: Den Gebäuden
wurde die Latte von Anfang an hoch gelegt. „Als wir sahen, dass alle Projekte die Mindeststandards tatsächlich schafften,
setzten wir diese noch einmal hinauf“, so Schuster. Als Grundlage diente dafür der Total-Quality-Building-Standard (TQB),
ein Bewertungsstandard der Österreichischen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (ÖGNB), bei dem maximal 1000 Punkte in den
Kategorien Standort und Ausstattung, Wirtschaftlichkeit und technische Qualität, Energie und Versorgung, Gesundheit und Komfort
sowie Ressourceneffizienz erreicht werden können. Für alle Gebäude in der ersten Bauphase südlich des Sees galt die Vorgabe
von mindestens 750 TQB-Punkten, im neuen Quartier im Norden waren es schon 800. Allerdings übertraf bereits das erste Projekt,
das Technologiezentrum Seestadt der Wirtschaftsagentur, diese Vorgaben gründlich und lieferte 975 Punkte ab.
Neue
Impulse. Eine gute Dekade später gehen wieder neue Impulse von der Seestadt aus: Im Quartier „Am Seebogen“ wurde
nicht nur ein weitgehend energieautarker Bildungscampus der Stadt Wien fertiggestellt. Vor Kurzem ging auf dem Bauplatz H6
das „Kraftwerk Seebogen“ für knapp 20.000 Quadratmeter neuer Wohn- und Gewerbeflächen in Betrieb. Über eine Kombination von
Erdwärmesonden und ein Anergienetz gelingt hier eine komplett CO2-freie Energieversorgung, die für die Bewohner nicht teurer
kommt als herkömmliche Anlagen.
Nicht zu vergessen das Projekt ROBIN Seestadt, das mit seiner Bauweise für Aufsehen sorgt.
Der Komplex aus drei Bürogebäuden, von welchen eines schon von der Privatuniversität Schloss Seeburg gekauft wurde, wird komplett
ohne Heizung und Kühlung auskommen. Wie das funktioniert? Dank extrem dicker Ziegelwände, intelligenter Beschattung und Lüftung
und der von den Nutzerinnen und Nutzern selbst produzierten Wärme.
Wissenschaftlich begleitet.
Die Entwicklung in der Seestadt wurde bereits früh wissenschaftlich begleitet und erforscht. 2013 riefen Siemens, Wien Energie,
Wiener Netze, die Wirtschaftsagentur Wien und die Wien 3420 die „Aspern Smart City Research GmbH & Co KG“ ins Leben. Europas
größtes und innovativstes Energieforschungsprojekt arbeitet seither mit Echtdaten aus der Seestadt an Lösungen für die Energiezukunft
im urbanen Raum.
Etwa im Bereich „Smart Building“, in dem Gebäude als Produzenten erneuerbarer Energie genauso identifiziert
werden können wie Einsparpotenziale bei gleichzeitig hohem Wohnkomfort und möglichst geringen Errichtungs- und Instandhaltungskosten
über den gesamten Lebenszyklus. Konkret findet das an fünf Gebäuden statt: einem Wohngebäude, einem Studentenwohnheim, einem
Bildungscampus, einem Technologiezentrum und einem weiteren Bürogebäude mit Sportanlagen und Garagenplätzen. Gebäude und Ausstattung
wurden von der ASCR bewusst so gewählt, dass unterschiedlichste Anforderungen beobachtet und möglichst viele Fragen beantwortet
werden können. Herzstück dabei ist das intelligente Building Energy Management System (BEMS), das die gemessenen Daten verknüpft
und automatisch auf Veränderungen reagiert. Momentan „lernt“ es, mit den Sensoren und Akteuren anderer Gebäude zu „sprechen“.
Was den Smart Buildings nicht nur ermöglicht, Energie intelligent zu verbrauchen, sondern auch zu produzieren, bei Bedarf
für später zu speichern oder ins Netz einzuspeisen.
Smartes Laden. In der aktuellen Forschungsphase
wird diese Kommunikation auch dazu genutzt, kluge Antworten auf Fragen rund um das Smart Charging für E-Autos zu finden. Denn
die Stromnetze stehen durch die Integration von E-Mobilität vor großen Herausforderungen, da das Netz diesen zusätzlichen,
gleichzeitigen Energiebedarf erst einmal bewältigen muss. Dafür forscht die ASCR etwa in der Multifunktionsgarage „Seehub“
an intelligenter Lade- und Regelungsinfrastruktur, die Ladevorgänge unter Berücksichtigung von Netzrestriktionen umsetzen
kann. Und dann zu jedem Zeitpunkt „weiß“, wie viel Strom gerade auf dem Dach erzeugt und in der Tiefgarage verbraucht wird.
Auch die Bewohner werden in die Forschung immer wieder aktiv eingebunden. „Die ASCR hat beispielsweise 111 Haushalte eines
der ersten Wohngebäude mit einer Smart-Home-Control-App ausgestattet, mit der diese ihren Verbrauch und ihr Nutzerverhalten
optimieren und per Fernzugriff die Temperatur zu Hause steuern konnten“, berichtet Schuster. „Im Gegenzug erhielt die ASCR
die Daten für ihre Forschung.“
Klimafitte Zielvorgaben. Was in diesem konkreten Fall allerdings
dazu geführt habe, dass die Forscher lernen mussten, dass gar nicht alle Zielgruppen ständig ihre Wohnumgebung optimieren
wollen. Erkenntnisse, aus denen Konsequenzen gezogen werden können – genau wie aus anderen Dingen, die sich als optimierungsfähig
herausgestellt haben. Denn wie in jedem Labor, gibt es auch im „Urban Lab“, das die Seestadt in ihrer Einzigartigkeit ist,
nicht immer nur Erfolge – manche Dinge erwiesen sich als weniger alltagstauglich als sie am Reißbrett schienen.
Dennoch:
Um die angestrebte Klimaneutralität zu erreichen, müssen die Zielvorgaben laufend adaptiert werden. So hat etwa ein multidisziplinäres
Expertenteam unter Führung der FH Technikum Wien, dem Institute of Building Research & Innovation sowie Urban Innovation
Vienna den neuen Standard „
aspern klimafit“ entwickelt, der bereits bei den beiden Vorzeigeprojekten an der
„
aspern urban Waterfront“ und beim Hochhaus auf dem Baufeld J6 direkt an der U2-Station zum Einsatz kommt.
Für alle drei Projekte laufen derzeit die Architekturwettbewerbe – auf deren Ergebnisse darf man also schon sehr gespannt
sein. Ziel der sechs „klimafit“-Qualitätskriterien – die vom effizienten Energieeinsatz über Energieflexibilität bis hin zur
erneuerbaren Energieversorgung reichen – ist es, dass mit dem angepeilten Mix an Maßnahmen im Bereich Bauen, Wohnen und privater
Nutzung sowie Mobilität der CO2-Fußabdruck pro Bewohner um 4,6 Tonnen im Jahr reduziert wird. Und auch bei diesem Standard
wird die Seestadt ihrem Motto des „lebenslangen Lernens“ gerecht: Aktuell arbeitet das Expertenteam schon wieder an strengeren
Vorgaben, um sicherzustellen, dass die in den Gebäuden verbaute „graue Energie“ nachhaltig reduziert wird.
Neues
Kapitel Geothermie. Mit dem neuesten Kapitel in Sachen Energieversorgung, das jetzt in der Seestadt für ganz Wien
aufgeschlagen wird, bekommt Bauernfeinds Kraftwerk Seebogen Konkurrenz – allerdings im positiven Sinn, wie Schuster betont.
„Den Innovationswettbewerb von individuellen Projektbetreibern, die auch Sonderlösungen anbieten können, und den Großen wie
der Wien Energie sehen wir positiv“, so der Vorstand der 3420
aspern Development AG. Und die Errichtung der
ersten Tiefengeothermie-Anlage für die Fernwärme von ganz Wien ist natürlich ein weiteres Leuchtturmprojekt des „Urban Labs“.
Im Anergienetz
Auf dem Bauplatz H6 werden rund 20.000 Quadratmeter
Wohn- und Geschäftsflächen CO2-frei beheizt und gekühlt. „Die Wärme- und Kälteproduktion erfolgt dabei über Erdwärmesonden
und einen Luftwärmetauscher“, erklärt David Bauernfeind, Projektleiter von beyond carbon energy, die das Kraftwerk errichtet
haben. „Die Stromversorgung für die Wärme- und Kälteproduktion erfolgt größtenteils über mehrere Photovoltaikanlagen und die
einzelnen Baukörper sind dabei über ein Anergienetz miteinander verbunden.“ Ein System, das für Bauernfeind genau das kann,
wofür sein Unternehmen steht: „Unsere Grundprämisse lautet, dass die CO2-freie Energieversorgung den Developer nicht mehr
kosten darf; das Bummerl aber auch nicht den Nutzern umgehängt wird.“
Wiens erste Geothermie-Anlage
2023
wird das Projekt auf einem Areal am Rande der Seestadt gestartet. Die Tiefengeothermie-Anlage soll künftig klimaneutrale Fernwärme
mit bis zu 20 Megawatt erzeugen und damit 20.000 Haushalte versorgen. Ein gutes Beispiel für den langen Atem, den es manchmal
braucht: Vor wenigen Wochen gab die Wien Energie grünes Licht für den Bau der ersten Geothermie-Anlage Wiens bis 2026, die
ein Meilenstein auf dem Weg zur klimaneutralen Großstadt ist. Die ersten Erkundungsbohrungen für Geothermie gab es in der
Nähe der Seestadt aber schon vor zehn Jahren – und sie dienten als Basis für das heutige Projekt. Um die Anlage noch effizienter
zu machen, plant Wien Energie zudem den kombinierten Betrieb mit einer Wärmepumpe. Das gesamte Investitionsvolumen summiert
sich auf 80 Millionen Euro, acht Millionen davon wird das Klimaschutzministerium beisteuern. Denn die Anlage ist ein Pilotprojekt
für den zügigen weiteren Ausbau der Tiefengeothermie in Wien. Bis 2030 will Wien Energie vier Anlagen in der Donaustadt und
Simmering mit einer Gesamtleistung von bis zu 120 Megawatt entwickeln. Der Ausbau der Tiefengeothermie soll auch nach 2030
fortgesetzt werden, damit die Fernwärme bis 2040 gänzlich aus klimaneutralen Quellen erzeugt wird. Mit den Bohrarbeiten am
„Aderklaaer Konglomerat“ soll 2024 begonnen werden, die Inbetriebnahme ist für 2026 vorgesehen. Damit startet in Aspern wieder
einmal ein neues Kapitel für die ganze Stadt: „Wir geben grünes Licht für die Wärmewende! Das Ziel lautet: Raus aus Gas –
und die Erschließung der Tiefengeothermie ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung“, freut sich Michael Strebl, Vorsitzender
der Geschäftsführung von Wien Energie. Qualifiziert hat sich die Seestadt als Standort für die Pilotanlage einerseits aus
geologischen Gründen durch das große Thermalwasservorkommen in einigen Kilometern Tiefe. Aber auch durch die Pionierarbeit,
die hier in Sachen alternativer Energiegewinnung seit der Gründung geleistet wurde, wie Peter Keglovic, Projektleiter für
Geothermie bei der Wien Energie, erklärt: „Neben der Quelle im Untergrund ist auch die Abnahme ein wichtiges Thema. Und das
bereits vorhandene Fernwärmenetz in der Seestadt ermöglicht für diese Abnahme kurze Wege.“