Treffpunkt Nelson-Mandela-Platz. Stadtplaner Andreas Kleboth
und Gender-Planning-Expertin Eva Kail über die planerischen, sozialen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Ansprüche
und Herausforderungen bei der Entwicklung eines neuen Stadtzentrums.
Von Trixie
Moradians
Städte sind Orte ständiger Bewegung. Sie sind Systeme, die wegen ihrer räumlichen,
demografischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Komplexität und Dynamik vernetzte Strukturen benötigen,
um zu funktionieren. Doch wie lässt sich eine Stadt zugleich erfolgreich, anziehend und für die Zukunft gestalten? Wodurch
kann ein öffentlicher Raum mit neuen Ideen urbane Vielfalt ermöglichen? Wie passt eine Shopping-Meile zu unserem veränderten
Einkaufsverhalten? Und wo braucht es Raum für zukünftige Konzepte? Als Architekt und Stadtplaner beschäftigt sich Andreas
Kleboth seit über 25 Jahren mit städtebaulichen Fragestellungen wie diesen. Ein Knackpunkt sei das Mobilitätsverhalten der
Menschen. „Dafür müssen Verkehrsknotenpunkte wieder sexy, werden“, stellt er bei unserem Treffen gleich einmal in den Raum.
„Eine gute Planung schafft es, im öffentlichen Raum Ziele und Werte des Gemeinwesens zu spiegeln, Identität zu stiften und
das gesellschaftliche Zusammenleben zu fördern.“ Gemeinsam mit Eva Kail, Gender-Planning-Expertin der Stadt Wien, begleitet
er das Projekt Seestadt schon lang. Nun liegt der gemeinsame Fokus auf dem zentralen Planungsprozess für den öffentlichen
Raum im Norden der Seestadt. „Das gesamte Areal der Seestadt ist mit rund 240 ha Fläche eines der größten Stadtentwicklungsprojekte
in Europa und der Süden bereits jetzt ein Paradebeispiel urbaner Innovation“, sagt Kleboth, der seit 2019 Beirat im aspern-Expert*innenteam
ist. Nun gehe es darum, den nächsten Schritt zu tun und die Gestaltung des öffentlichen Raums im noch weitgehend unbebauten
Norden, rund zwei Drittel des Gesamtprojekts, zu konkretisieren. „Das wichtigste Element steht und funktioniert bereits: der Bahnhof am Nelson-Mandela-Platz als ein zukünftiger Hauptverkehrsknoten der Donaustadt“,
sagt Kail. „Die Anbindung durch öffentliche Verkehrsmittel bringt hier jene urbane Mobilität und Zentralität, die die Seestadt
und ihre Nachbarschaft zur nachhaltigen Stadt der kurzen Wege machen wird.“
Wachstumsfugen.
Deswegen passieren in und rund um die Seestadt derzeit viele Vorbereitungen parallel: Die Vorarbeiten für den Bau der Sraßenbahnschleife
am Bahnhof müssen demnächst sprichwörtlich auf Schiene gebracht werden. Damit beschäftigt sich Franz Reschke, der Sieger des
Planungswettbewerbs für die Rote Saite Nord intensiv. Am Verkehrsknoten Aspern Nord halten Schnell- und Regionalbahnen nach
Hütteldorf und Bratislava, die Linie U2, einige Buslinien und ab Herbst 2025 die neue Straßenbahnlinie 27, die Floridsdorf
über Kagran mit der Donaustadt verbindet. Noch etwas weiter in der Zukunft: Die Straßenbahnlinie 25, die von Süden am See
vorbei durch die Einkaufsstraße fährt. „Die Frequenz hier ist schon überraschend hoch und sie wird noch enorm steigen“, sagt Kleboth. „Denn mit rund 20.000 geplanten Arbeits- und Ausbildungsplätzen und über 25.000
Bewohnern ist die Seestadt nicht nur ein dynamisch wachsender Wirtschaftsstandort, sondern ein neues regionales Zentrum.“
Und er betont, dass der klare Fokus auf öffentliche, nachhaltige Mobilität
nichts daran ändert, dass die Entwicklungsachse U2-Donaustadt natürlich auch eine leistungsfähige Straße als Teil des Gesamtkonzepts
braucht: „Im Umfeld der Seestadt und hier im Norden sollen in Summe um die 60.000 Menschen zukunftsweisenden Wohnraum finden.
Die Ansiedlung von Betrieben und Arbeitsplätzen wird ganz ohne Straßeninfrastruktur nicht möglich sein – obwohl sie hier sonst
perfekte Rahmenbedingungen haben.“
Cokreative Meile statt Einkaufsstraße.
„Der Angebotsmix der cokreativen Meile und ihr attraktiver öffentlicher Raum werden die Seestadt zum Hotspot dieses Teils
der Donaustadt machen“, erläutert Kail. „Gerade die Einkaufsstraße zwischen dem Bahnhof und dem Zaha-Hadid-Platz am See wird
ein Ort mit vielfältiger sozialer Infrastruktur.“ Entscheidend für die Lebendigkeit eines Stadtviertels ist sein öffentlicher
Raum. Ist er sicher und gut gestaltet, ermöglicht er gleichberechtigte soziale Begegnungen. „Das ist kein neues Konzept, sondern
das erkannte schon Jane Jacobs“, erläutert Kail. Die New Yorker Aktivistin beschrieb in ihrer 1961 erschienenen Abhandlung
„The Death and Life of Great American Cities“ wie Städte funktionieren, sich entwickeln und woran manche scheitern. Die von
ihr eingebrachten „Aspekte der Nutzmischung von Stadtvierteln und deren Belebung zu verschiedenen Tageszeiten inspirierten
auch die Konzeption der Seestadt“, erzählt Kail. Jacobs pries breite Gehwege und öffentliche Räume, in denen man sich gleichberechtigt
und ohne Autos bewegt. Sie wusste auch schon, dass für eine positive soziale Kontrolle Räume mit „social eyes“ wichtig sind,
die Sicherheit für alle vermitteln und auch auf Höhe der Erdgeschoßzone sind. „Sicherheit entsteht nicht nur durch eine gute
Beleuchtung in der Nacht, sondern vor allem auch durch die Mischung aus Geschäften, Gastronomie und Wohnungen, wo auch nach Geschäftsschluss Licht brennt“, erklärt Kail. „Die Beleuchtung muss ausreichen, um ein Gesicht
aus zehn Metern zu erkennen“, erklärt sie. Bei der Auswahl der Wettbewerbseinreichungen zur Gestaltung der neuen Meile achtete
Eva Kail auf gendergerechte Schwerpunkte. „Als Jurorin habe ich versucht, jeweils in die Schuhe der unterschiedlichen Nutzerinnen
und Nutzer zu schlüpfen und deren Bedürfnisse aus ihrem Blickwinkel zu erfahren“,
sagt sie. Für ein Stadtquartier stellt sie sich Fragen wie: Ab wann kann mein Kind allein in die Schule gehen oder mit dem
Rad fahren? Kann ich am Weg von der U-Bahn einkaufen – und treffe ich dabei Bekannte? Wie weit ist es zum nächsten öffentlichen
Verkehrsmittel? Sind die Wege für Rollstühle und Kinderwägen geeignet?
Die
Stadt der kurzen Wege. Um all diese Anforderungen zu berücksichtigen, verbindet der Jane-Jacobs-Steg das Quartier
„Am Seebogen“ mit dem Seeparkquartier als Rad- und Fußgänger-Querung über den See. „Ganz im Sinne seiner Namensgeberin kommt
man über den Steg schnell zur U-Bahn, zu den Bussen oder Leihrädern“, sagt Kail. „Er führt zu den Supermärkten, der Schule oder zu den Sportplätzen unter der U-Bahn, zur Bücherei und dem Jugendzentrum und in Zukunft
zu den Lokalen in den Arkaden an der Waterfront. Vorbei an den beliebten Skater-Wellen und an der Pop-up-Bar am See.“ Entscheidend
sei, dass sich alle Geschlechter und Altersgruppen im Raum wiederfinden und unkompliziert unterwegs sein können. „Beim Wettbewerb
habe ich besonders auf die so genannten Gehlinien geachtet“, bemerkt Kail. „Die Wege sollen sowohl Einkaufs- und Flaniermöglichkeiten
bieten, aber auch als linearer Bewegungsraum funktionieren.“ Ganz wichtig sei dies beispielsweise im Bahnhofsbereich des Nelson-Mandela-Platzes,
wo eine
angenehme Wartesituation geschaffen werden solle. Neben einer guten Anbindung im öffentlichen Verkehr
soll der Platz nicht nur ebenerdig als Ausgangspunkt für kulturelle und kommerzielle Möglichkeiten funktionieren, sondern
auch von den oberen Stockwerken der umgebenden Gebäude einladend wirken. „Zu berücksichtigen sind bei der Gestaltung natürlich
auch Orte, die im Frühjahr, Herbst und Winter sonnig sind und in den Sommermonaten Schatten spenden“, erzählt Kail. Das sei
gerade aufgrund der zunehmenden Hitzeperiode ein wichtiger Aspekt. „Wir wissen, die beste Klimaanlage im öffentlichen Raum sind nun einmal Bäume, die haben es in der Stadt aber sehr schwer“, so Kail. Das Schwammstadtprinzip
der Seestadt gebe den gepflanzten Bäumen genügend Wasser und Raum zur Entfaltung ihrer Wurzeln. „Gute mikroklimatische Bedingungen
sind besonders genderrelevant, da die Hitzewellen vor allem kleinen Kindern, Frauen
und alten Menschen gesundheitlich zu schaffen machen“, sagt die Expertin. Wo keine Bäume möglich sind, bieten etwa die bereits
erwähnten Arkaden um den Zaha-Hadid-Platz einen guten Schutz gegen Hitze und Regen und sorgen zudem für Behaglichkeit.
Vielfältig
aus Prinzip. Die cokreative Meile mit ihrem geschäftigen Treiben bildet zukünftig das Gegenstück zur ruhigeren, sehr
grünen Spielstraße für Jung und Alt, die mehrere Parks verbindet. „Menschen fühlen sich letztlich am wohlsten, wenn die individuelle
Freiheit mit urbaner Dichte verbunden wird“, so Kleboth. Genau dies ließe sich nun bei der Planung des neuen Bereichs der
Seestadt bestens umsetzen. „Wir möchten, dass sich nicht nur Menschen aus der Seestadt zu allen Tageszeiten in der Fußgängerzone
treffen können, um mit ihren Familien und Freunden an den Schaufenstern entlang zu spazieren, einkaufen zu gehen, die Cafés
oder Restaurants zu besuchen, zum See zu gehen oder vielleicht einem Straßenmusiker zuzuhören.“ Es gehe vor allem darum, Konsum
und Kreativität entlang der Verbindungsmeile in der richtigen Dosierung zu verteilen und die verschiedenen Aktivitäten miteinander
zu verknüpfen. „Das ultimative Ziel aller Beteiligten ist ein belebter Stadtteil mit viel Grünraum, aber auch zahlreichen
Möglichkeiten zum kreativen Zusammentreffen und für außergewöhnliche Einkaufserlebnisse“, so Kleboth weiter. „Daher wollen
wir, dass sich gerade in diesem zentralen Bereich Läden abseits des Mainstreams ansiedeln, die man sonst nur in Nebenstraßen
findet.“ Die Etablierung einer Markthalle gehöre ebenfalls zu den aktuellen Überlegungen. „Hier könnten Produzenten aus der
Umgebung ihre Produkte verkaufen“, so Kleboth. „Schließlich bildet die Seestadt die Verbindung zur Genussregion Marchfeld.“
Konsumfreie Räume, bewusste Lücken für Zukünftiges, aber auch konkrete cokreative Projekte stehen im Fokus der Planung und
werden gefördert. Ein Blick vom Bahnhof über den See auf die Skyline im Süden macht jedenfalls jetzt schon Lust, in das neue
Zentrum in der Donaustadt einzutauchen.